Děčín: Überraschungsei der Architektur
Wer nach Prag reist, fährt meist durch Děčín. Aussteigen lohnt: Neben Schloss und Kletterpark gibt es mitten in der Stadt einen Lost Place.
Děčín ist einer meiner Lieblingsorte in Tschechien. Viele sehen die Stadt als bloße Durchgangsstation. Doch sie bietet mehr als viele glauben und hat sich in den letzten Jahren kolossal verändert. Anfang der 1980er war sie unser erstes Reiseziel in der ČSSR. Meine Familie und ich sind damals als Zugreisende im Hauptbahnhof über die Gleise gestiefelt: Unterführungen gab’s nicht, und im Schloss über der Stadt saßen die Russen.
Ein Kletterpark am Fels - mitten in der Stadt
Heute ist das Schloss offen für alle, und am Elbufer gegenüber ist der Kletterpark an der Schäferwand (Pastýřská Stěna). An sonnigen Tagen ist hier ganz schön was los: 16 Kletterwege mit Namen wie "Luftballett" oder "Weg in den Himmel" und unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden warten auf's Erklimmen. Wanderer können auch mit einem Bergführer bei Sonnenaufgang rauf. Etwa 30 Minuten sollen die Wege nach oben durchschnittlich dauern - und der Blick von oben auf die Stadt soll spektakulär sein.
Um den Kletterpark herum hat sich eine kleine Kneipenmeile gebildet, wo es z.B. leckere Burger gibt. Děčín hat aber noch mehr: Gut erhaltene Wohnhäuser aus mehreren Architektur-Epochen, eine sorgfältig sanierte Synagoge – und einen imposanten Lost Place mitten in der Stadt. Ein Nachmittagsspaziergang lohnt sich, vor allem im linkselbischen Podmokly (dem früheren Bodenbach)!
Am besten startest du direkt am Hauptbahnhof (im Bahngebäude ist auch ein Touristenbüro). Gleich gegenüber ist ein lohnenswerter Zwischenstopp: Die Bäckerei „U Ondase sever“ an der Ecke P. Holého/Čsl. Mládeže. Wer noch keinen Hunger hat, bekommt ihn hier! Zum Beispiel auf Butterkuchen (máslové koláčky) mit Pflaumen. Was Bäcker Jiří Ondečko zaubert, schmeckt!
Jugendstil und neue Sachlichkeit
Anschließend läufst du die Holého weiter Richtung Innenstadt. Schon das Haus an der nächsten Ecke, wo rechts die Zbrojnická abzweigt, fällt mit seiner üppigen Jugendstil-Fassade in Gelbtönen auf. Es war einst Postamt und Wohnhaus des Architekten Andreas Putz und entstand 1908/09: Pflanzenmotive und besonders die Frauenköpfe mit Eulen rund ums Erdgeschoss lohnen das Hinschauen. Als Krönung trägt das Haus eine Wetterfahne und eine Uhr. An der Ecke gegenüber eine Fassade aus der Zeit der neuen Sachlichkeit: Das Haus von 1937/38 war einst eine Bank.
Die Holého und ihre pastellfarbenen Fassaden entlang, öffnet sich bald rechter Hand ein Platz: Der Husovo náměstí mit der katholischen Kirche Franz von Asisi. Rund um den Platz ist immer Betrieb, hier warten die Děčíner auf den Stadtbus oder erledigen Einkäufe. Gegenüber der Kirche, in der Trzní-Straße, fällt ein rosé-grünes Haus mit einem Weingeschäft auf: „Dum Vina“ ist ein Hingucker durch seine funktionalistische Architektur.
Visionäres Bauen gab es hier schon ab 1850
An diesem Platz ist eins gut zu erkennen: Hier wurde luftig gebaut. Industriebetriebe und damit die Verstädterung kamen in der Region relativ spät an. Erst 1850 schlossen sich mehrere Dörfer zur Gemeinde Bodenbach zusammen. Als man den künftigen Marktplatz rund um die Asisi-Kirche plante, wurde zu enges städtisches Bauen verboten. Offenbar wollte man Berliner Hinterhof-Zustände - zu wenig Luft und Licht - vermeiden. Am stärksten wuchs die Stadt übrigens zwischen 1900 und 1915: Damals entstanden hier etwa 200 Häuser – und mit ihnen auch viele Banken, die das Bauen finanzierten.
Die Holého geht‘s weiter, bis rechts die Graffiti-Hauswand vom „Café Prostoru“(Kinderspielraum und guter Kaffee!) auftaucht. Und da an der Straßengabelung thront es direkt gegenüber: Ein riesiges, verwittert-verlassenes Gebäude, was von kleiner Anhöhe auf die restliche Stadt herunterblickt. Das ehemalige Hotel „Elbhof“ von 1865. Stolz wie eine mediterrane Villa, mit großen Fenstern und säulenumkranzten Balkonen. Fast erinnert es an die Porta Nigra in Trier!
Alte Ansichtskarten zeigen das Hotel als wichtiges Stadtmotiv. Um 1900 herum gehörte es dem Architekten Johann Glaser, später wurde es umgebaut zum Wohn- und Kaufhaus, nach dem 2. Weltkrieg war es Bürogebäude. Trotz jahrelangem Leerstand und Verfall wirkt es anmutig – und steht wohl für eine hohe Summe zum Verkauf, wie eine Děčínerin erzählt.
Wer über die gepflasterte Toreinfahrt ins Grundstück hineingeht, entdeckt ein weiteres altes Stück Stadtkultur: Das einstige Kino „Elbhof“. Über und neben dem Eingang hängen alte Leuchtkästen, darüber Engel mit Blumengebinden. Die Fenstergitter links und rechts tragen noch die Inschrift „Kino“.
Du kannst nun rechts in die Teplická hineinlaufen, denn hier warten weitere Schmuckstücke: Nummer 370 mit graublauen Fliesen und gelbfarbenem Band aus Blattmotiven, dazu sonnenverzierte Giebel. An der Fassade ist auch das Baujahr vermerkt – findest du die Jahreszahl?
Die Teplická zurück zum Hotel „Elbhof“ und noch ein Stück weiter kommst du zur Děčíner Synagoge. Das 1906/07 im Jugendstil errichtete Gotteshaus klebt in der Žižkova 663/4 etwas am Berg und wurde 2007 renoviert. Die jüdische Gemeinde hier zählte vor dem Zweiten Weltkrieg fast 500 Mitglieder, war eine der größten in der Region. Mittlerweile erwacht wieder jüdisches Leben in der Stadt. Wer die Synagoge besichtigen möchte, sollte vorher anrufen: +420-412 531 095.
Die Žižkova wieder zurück, überquerst du die Straße und landest in der Ruská, wo nach einigen Metern rechts die Palackehó abzweigt. Auch hier bauliche Kontraste: Neben sachlich-schlichten Häusern (wie etwa Nr 1225 aus dem Jahr 1934) grüßt wieder der verspielte Jugendstil – z.B. die Nummern 627, 643, 675 und 676.
Falls du der Fassaden noch nicht müde bist, biege nochmal um die Ecke in die Bezrucova: Das prächtige Haus Nr 790 mit seinen großen Balkonen ist als Goethehaus bekannt. Entdeckst du das Relief des Dichters?
Es gibt noch viel mehr sehenswerte Gebäude in Děčín: In der Podmokelská etwa das Kino von 1927 und das Postamt aus den 1940ern. Oder die Villen in der Resslova. Jeder Děčín-Ausflug überrascht mich mit etwas Neuem.
Ganz zum Schluss, vielleicht als Kontrast zu Jugendstilschnörkel und schlichter Sachlichkeit: Schau mal in das große, würfelförmige Billa-Kaufhaus gegenüber vom Hauptbahnhof. Dort lebt noch der postsozialistische Tschechienstyle der 1990er. Auch der hat was!
Weitere Orte, um ins Děčíner Leben einzutauchen: Wenn du hungrig bist auf die leckeren tschechischen Chlebičky, dann schau mal in die Bäckerei Dečan, Ruská 791/43. Die üppig belegten Weißbrotscheiben gibt's hier inklusive einer kleinen Zeitreise: Das Interieur des Geschäfts erinnert an die frühen 1990er. Legendär mittlerweile ist die Bahnhofskneipe im Hauptbahnhof mit ihrer ganz eigenen Atmosphäre. Und in einem alten Fabrikgebäude neben einer Einkaufsgalerie braut Děčín sein ungefähr zehn Jahren wieder eigenes Bier: Im Gewölbekeller im Centrum Pivovar (Sofijská 2/3) wird das "Kapitán" ausgeschenkt.
Falls du noch Zeit hast für die andere Elbseite, für das frühere Tetschen: Unbedingt einen Blick ins Antiquariat von Stanislav Dostál (Křížová 16/17) werfen! Bücher in den Regalen, gestapelt auf'm Boden, auf der Fensterablage - und auch manche alten AMIGA-Platten lassen sich hier aufstöbern.
Meine Quelle zur Děčíner Architektur: Das Buch von Alena Sellnerová, Jan Hanzlik, Marta Pavliková: "Architektura Podmokel – Architektur von Bodenbach"; bestellbar im Stadtmuseum Děčín. Oder du schaust mal bei Stanislav Dostál vorbei.
Noch mehr zur Architektur und einzelnen Gebäuden Děčíns findest du hier.